Was ist die ›Lehre‹?
Auf diese Frage hat Krishnamurti äußerst unterschiedliche Antworten gegeben. Am Ende einer Rede in Varanasi 1974 antwortete er darauf beispielsweise: »Fragen Sie mich das? Sie fragen mich was die ›Lehre‹ ist. Ich weiß es selbst nicht. Ich kann das nicht in einige wenige Worte fassen. Kann ich das? Ich denke, die Vorstellung vom Lehren und dem Belehrten ist im Grunde falsch, zumindest für mich. Ich denke, es ist eher eine Sache des Teilens als belehrt zu werden, es ist eher teilhaben als geben und empfangen.«¹
Für seine von Mary Lutyens geschriebene Biographie verfasste Krishnamurti dagegen eine kurze Darstellung mit dem Titel »Der Kern der Lehre«² und auf die Frage von langjährigen Wegbegleitern in Indien, ob er die ›Lehre‹ in einem Satz zusammenfassen könne, antwortete er nach kurzem Innehalten: »Wo Du [da] bist, ist das ›Andere‹ nicht [da].«³ Der volle Gehalt dieses Satzes wird allerdings nur demjenigen einigermaßen verständlich, der sich schon etwas näher auf das eigene Innere eingelassen hat.
Gliederung auf dieser Website
Krishnamurti hat sich im Wesentlichen in drei Formenan seine Mitmenschen gewandt:
- Öffentliche Reden
- Gespräche
- Schriften
Die öffentlichen Reden vermitteln den besten Überblick über das, was Krishnamurti mitteilen wollte. Allerdings sollte man dazu die Reden einer Serie vollständig der Reihe nach anhören, anschauenoderlesen. Entsprechende Hinweise machte Krishnamurti gelegentlich selbst bei seinen Reden.¹ Eine Serie konnte bis zu zehn Reden umfassen, danach folgten bespielsweise in Saanen 1964-66 noch sieben öffentliche Dialoge. Eine der kürzesten Zusammenfassungen der Lehre sind die zwei Reden in Washington 1985.²
Die Gespräche mit Einzelpersonen und kleinen Gruppen waren für Krishnamurti ebenso wichtig wie die öffentlichen Reden. Die Ausgangsfragen und Themen der Gespräche sind so vielfältig wie das Leben selbst. Die Gespräche und Diskussionen mit Mitarbeitern und Schülern der Schulen wie auch mit Treuhändern und Mitarbeitern der Stiftungen nehmen eine gewisse Sonderstellung ein. Dort versucht Krishnamurti offenbar direkter als sonst einen Bewusstseinswandel anzustoßen. Leider sind von diesen Gesprächen erst relativ wenige veröffentlicht und außer einigen Büchern noch kaum etwas übersetzt.
Die Schriften Krishnamurtis umfassen vor allem Notizbücher, Tagebücher und Briefe. Vor allem »Das Notizbuch«³ (eigentlich ein Tagebuch, geführt vom 18. Juni 1961 bis 19. März 1962) enthält viele Aufzeichnungen seiner außergewöhnlichen Bewusstseinszustände und Wahrnehmungen. Aber alle Schriften lassen aufnahmefähige Leser erahnen oder spüren, welcher Art die innere Verfassung eines Geistes sein kann, in dem die Grenzen der persönlichen Vorstellungswelten aufgehoben sind.
Wissenswertes zur Lehre
Die Bezeichnung ›Teachings‹(zu Deutsch ›Lehre(n)‹) für das, was Krishnamurti in Reden, Gesprächen und Schriften seinen Zuhörern, Gesprächspartnern und Lesern mitteilt, ist nicht unproblematisch. Der Begriff ›Teachings‹ bezeichnet im Englischen die »von einer Autorität gelehrten Ideen oder Grundsätze«.¹ Damit scheint diese Bezeichnung im Gegensatz zu einer von Krishnamurtis Kernaussagen zu stehen, dass es beim Kennenlernen und Ergründen des eigenen Inneren keinen Lehrer geben kann und die Orientierung an einer fremden oder der eigenen Autorität das Erkennen beeinträchtigt.
Dabei hat Krishnamurti den Begriff selbst benutzt, obwohl er einmal die Bemerkung machte, dass das Wort ›Teachings‹ vielleicht eine »ziemlich grandiose« Bezeichnung wäre. Befragt, wie es zu diesem Begriff gekommen sei, beschrieb Krishnamurti, wie diese Bezeichnung in einem Gespräch unter Freunden auftauchte: »Wir dachten daran, das Wort ›Werk‹ zu benutzen – Stahlwerk, Bauwerk, Wasserkraftwerk – wissen Sie, ich meinte dann, dass das Wort ›Werk‹ sehr, sehr allgemein ist. Also überlegten wir uns, dass wir das Wort ›Lehre‹ benutzen könnten. Aber es ist nicht wichtig – das Wort – nicht wahr? … Es kommt auf Sie an, darauf, ob Sie die Lehren leben oder nicht.«²
Der Beginn der Lehreist nicht klar bestimmbar. Es scheint verschiedene Aussagen Krishnamurtis zu verschiedenen Personen gegeben zu haben, die leider nicht belegt sind. Danach könnte es zum einen das Jahr 1933, zum anderen die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg sein, als er wieder in die Öffentlichkeit trat. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist mit ›Beginn der Lehre‹ das Erreichen der letztmöglichen Tiefe der Einsichten gemeint oder die Vollständigkeit des geistigen Verschmelzens mit dem, was Krishnamurti das ›Andere‹ oder den ›Grund‹ genannt hat. Ganz sicher handelt es sich aber nicht um die sprachliche Ausformung oder die inhaltlichen Schwerpunkte seiner Ausführungen zur Lehre, die im Laufe der Jahre verschiedene Veränderungen erfahren haben.³
Experten, Autoritäten, Lehrbeauftragte– Schon zu Lebzeiten Krishnamurtis gab es Menschen, die behaupteten, sein Werk erklären oder lehren zu können. Drei Monate vor seinem Tod erklärte er zum wiederholten Male, dass niemand eine »Vollmacht besitzt, Krishnamurti zu repräsentieren oder sein Anhänger oder Nachfolger zu sein«.⁴ Doch er wies darauf hin, dass diejenigen, für die nicht seine Worte, sondern die Lebensweise, auf die seine Worte hindeuten, eine tiefe Bedeutung haben, ihre Entdeckung natürlich mit anderen teilen würden: »Wenn Sie die Schönheit dieser Hügel sehen, die außergewöhnliche Stille eines jungen Morgens wahrnehmen, die Gestalt der Berge, der Täler, der Schatten, wenn Sie sehen, wie alles in Harmonie ist – würden Sie dann nicht Ihrem Freund schreiben: ›Komm hierher und schau dir das an?‹ Es geht Ihnen nicht um Sie selbst, sondern nur um die Schönheit des Berges.«⁵